Heinz Marienfeld
Norderney zwischen gestern und heute
Es ist bekannt, daß die Römer unter Drusus Germanicus eine
Inselreihe in der Nordsee entdeckten. Über Form und Lage ist von
ihnen keine Aussage vorhanden, doch ist anzunehmen, daß Anzahl
und Form der Inseln von damals nicht dem heutigen Bild entsprechen.
Damit liegt über die erste Besiedlung Norderneys dunkle Vergangenheit.
Unterlagen liegen erst aus dem Jahre 1550 vor. Damals sollen sich etwa
80 Einwohner auf der Insel befunden haben. Aus den Norderneyer Kirchenbüchern,
die seit 1688 geführt werden, ist erst seit 1782 eine regelmäßige
Statistik möglich. Im Jahre 1793 lebten auf der Insel 545 Einwohner.
Die Bedingungen, auf der Insel existieren zu können, waren außerordentlich
schwer. Abgesehen von den schlechten Verdienstmöglichkeiten fehlte
es an ärztlicher Hilfe ganz. Infektionskrankheiten hielten tödliche
Ernten unter der Bevölkerung, zum Beispiel forderte die Ruhr 1759/60
100 Todesopfer.
Die Verbindungen zur Winterszeit waren schlecht, wenn nicht durch strengen
Frost unmöglich oder lebensgefährlich. Die Folgen waren Hungersnöte
und tödliche Unglücksfälle derer, die versuchten, über
das Watt die Verbindung mit dem Festland aufzunehmen, um Lebensmittel
und Arzneien zur Insel zu bringen. Die einseitige Kost der getrockneten,
salzigen Fische verursachte Magenkrebs vor allem herrschte diese tödliche
Erkrankung unter den Frauen und dezimierte die Bevölkerung. Erst
im Jahre 1785 ließ sich ein Chirurgus auf der Insel nieder; damit
trat eine Verbesserung der ärztlichen Versorgung ein. Von der Bevölkerung,
deren Armut sprichwörtlich war, konnte der Arzt nicht leben, so
daß er gezwungen war, als Seemann verschiedene Reisen ins Ausland
zu machen.
Der Kinderreichtum der Familien war groß und ist der Grund, daß
die Bevölkerung nicht abnahm, obwohl die Gefährlichkeit des
Seemannsberufes es mit sich brachte, daß im Jahre 1798 von 556
Einwohnern allein 52 Witwen waren.
Die Bewohner Alt-Norderneys waren Friesen. Man nimmt wohl richtig an,
daß sie vom ostfriesischen Festland zur Insel herüberwechselten.
Der Grund mag darin zu suchen sein, daß die Fischgründe in
der Inselnähe ertragreicher waren. Sie sprachen das friesische
Platt, das in seiner Urform auf Norderney nicht mehr gesprochen wird,
obwohl die Insulaner noch heute untereinander Platt sprechen. Ihre Lebensweise
war sehr anspruchslos, ebenso ihre Wohnungsverhältnisse.
Eine Überlieferung aus alter Zeit gibt es heute noch: das Norderneyer
Heimatmuseum im ArgonnerwäIdchen, zwischen Kurhotel und Weststrand
liegend. Bis zum Jahre 1750 war die Fischerei die Haupterwerbsquelle
der Insulaner. Die Frachtschiffahrt dehnte sich in den folgenden Jahrzehnten
so aus, daß um das Ende des 18. Jahrhunderts fast ein Viertel
der Bevölkerung auf Kauffahrteischiffen fuhr. Nicht selten war
es, daß ganze Schiffsbesatzungen vom Matrosen bis zum Kapitän
von Norderneyern gestellt wurden. Ende des 19. Jahrhunderts zählte
man auf Norderney 90 Fischerschaluppen. Mit dem Aufkommen der Dampfschiff-Schleppnetzfischerei
ging diese Periode der Fischerei zu Ende. Heute verfügt Norderney
über keinen Fischkutter mehr, nachdem die Norderneyer Fischerei
im Jahre 1956 einen schweren Schlag erlitt. Bei der Insel Spiekeroog
gingen zwei der modernsten Hochseefischkutter Norderneys im schweren
Wetter verloren, wobei beide Besatzungen den Tod fanden.
Staatsrechtlich gehörten die Ostfriesischen Inseln dem Landesherrn
und standen in seiner unumschränkten Souveränität. Das
Wort "Eala frya fresena" galt nur für die festländischen
Friesen, denn die Insulaner verfügten über keinen Grundbesitz,
sie waren Erbpächter. Die oberste Gewalt auf der Insel führte
der vom Landesherrn eingesetzte Inselvogt. Ihm unterlag die polizeiliche
Gewalt, das Eintreiben der Gebühren und die Wahrung der Rechte
am Strandgut. Er wurde vom Hofe entlohnt und konnte im alleinigen Recht
Warenhandel treiben. Es ergab sich zwangsläufig, daß das
Verhältnis zwischen Einwohnern und Vogt nie das beste war.
Chroniken berichten darüber, was es "für ein Festtag"
war, wenn ein Schiff strandete. Die vollzählige Einwohnerschaft
wartete am Strand, bis es möglich war, "die Schätze zu
bergen", die ein gestrandetes Schiff mit sich führte. Es versteht
sich von selbst, daß die Insulaner mit dem Vogt in Verdruß
gerieten, denn gesetzlich standen ihnen nur ein Drittel des Bergelohns
zu, das andere mußte abgeführt werden.
Auch die Pastoren hatten auf der Insel kein leichtes Los. Ihre Einkünfte
waren gering, und sie waren gezwungen, nebenbei einen Beruf auszuüben.
Obwohl die Gebühren für Trauungen, Taufen und Begräbnisse
festgelegt waren, hing doch die Erfüllung immer vom guten Willen
der Pflichten ab. Und der war nicht immer vorhanden, dies ist bekannt.
Als Schullehrer fungierte der Pastor und die Kinder hatten bei Eintritt
einen "Einschlag" mitzubringen.
Allen Einflüssen vom Festland stand der Insulaner feindlich gegenüber.
Für jeden Eingewanderten war es schwer, Fuß zu fassen. Man
mied sie und machte ihnen das Leben sauer, ja, man ging sogar so weit,
daß die Eltern der Tochter oder dem Sohn verboten, Inselfremde
zu heiraten. So ergab sich, daß alte Insulaner-Familiennamen vorherrschend
wurden, weil sie unter sich verwandt oder verschwägert sind. Die
vorherrschen den Familiennamen sind: Raß, deren Stammvater der
um 1605 eingewanderte Norder Schüttmeister Johann Rasske (Raß)
ist, Visser, Kluin, Lührs, Bents u. a. m. .
Eine nette Geschichte erzählt, wie eine Norderneyer Hebamme eine
Lanze für Eingewanderte bei den Insulanern brach. Als man versuchte,
indem man den Landfremden keine Erwerbsquelle gönnte, sie wieder
von der Insel zu verdrängen, sagte die kluge Hebamme zu den Insulanern:
"Wenn ihr die Fremden wieder von der Insel drängt, so holt
euch in Zukunft eure Kinder alleine!" Sie hatte Erfolg, die Fremden
blieben. Eine wesentliche Änderung der Bevölkerungsschicht
vollzog sich, als Norderney ein Weltbad wurde. Auch durch die beiden
letzten Kriege sind erheblich viel Fremde zugewandert.
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